GASTFREUNDSCHAFT

«Seit 1983 verpflegen und beherbergen wir im HOPE Menschen, die durch die Maschen des Sozialsystems fallen. Dieses Jahr konnten wir die in die Jahre gekommene Gassenküche sanieren. In neuem Glanz und mit erweiterten Arbeitsflächen erstrahlt die Küche, doch was bleibt, ist unser niederschwelliges Hilfsangebot, unsere Gastfreundschaft und natürlich die Gratissuppe.»

Die Berliner Autorin Marleen Stoessel beschreibt die Gastfreundschaft als eines der ältesten menschlichen Kulturgüter. Sie zitiert Platon, der in seinen ‹Gesetzen› um die Mitte des 4. Jahrhunderts vor Christus das Gastrecht als höchste ethische Pflicht bezeichnet. Die schlimmste Strafe sei die Verbannung in die Fremde und ins ‹Elend›. So beschreibt er das Schicksal jener, die aus der Gemeinschaft verstossen und schutzlos, im Sinne von vogelfrei, waren. Gastfreundschaft, als ein Menschenrecht, regelt das Verhältnis zum Fremden und umfasst neben Bewirtung auch Wärme, Obdach, Schutz, ein Lager sowie die Aufnahme in die Gemeinschaft und ins menschliche Gespräch. Gerade im Suchtbereich und angesichts der Entwicklung offener Szenen in bestimmten Regionen des Kantons Aargau ist diese ethische Verpflichtung,

Hilfsangebote zu schaffen und Menschen Raum und Schutz zu bieten, wieder von grosser Aktualität und soll zum Nachdenken und Handeln anregen. Besonders wurde in einer Umfrage hervorgehoben, dass ein Verpflegungsangebot wie eine Gassenküche von essenzieller Bedeutung ist. Immer wieder erleben wir, wie nach einer Übernachtung im Wald, auf einer Parkbank oder in einer Tiefgarage der warme Kaffee und das Frühstück dankbar angenommen werden.

Jesus lebte die Gastfreundschaft vor und beschreibt sie eindrücklich in Matthäus 25,35–36,40. Von diesen Worten liessen sich auch die Gründer von HOPE zum Handeln inspirieren, als sie die Not der Menschen in Baden erkannten. So entstanden Gassenküche und die über 40 Angebote in den Bereichen der 4 Bs: Begegnen, Betreuen, Beschäftigen und Beherbergen.

«Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem von diesen geringsten Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.»

Bereits der Prophet im Alten Testament sagte: «Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe in dein Haus» (Jesaja 58,7). Es gibt Menschen, die die Gabe der Gastfreundschaft besitzen und daher besonders gastfreundlich sind (1. Petrus 4,9). Die Aufforderung «Trachtet nach der Gastfreundschaft» (Römer 12,13) sowie die bekannte und zugleich rätselhafte Stelle in Hebräer 13,2 unterstreichen die Bedeutung der Gastfreundschaft:

«Vergesst die Gastfreundschaft nicht, denn dadurch haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.»

Vielleicht haben wir im HOPE schon Engel beherbergt, können dies jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Was jedoch feststeht, ist, dass wir, wenn wir in allen Gästen mögliche Engel sehen, genau die Kultur der Gastfreundschaft schaffen, die wir anstreben und leben wollen.

In einem Artikel von Gastrosuisse beschreibt die Historikerin Dr. Angela Dettling, wie sich die Gastfreundschaft im Laufe der Zeit professionalisiert hat. Im Mittelalter konnten Reisende an die Türen privater Häuser klopfen und mussten gegen Bezahlung drei Tage aufgenommen werden, bis nach und nach Gasthäuser und Tavernen entstanden, in denen die Wirte sich als öffentliche Dienstleister verstanden. Das älteste Gasthaus der Schweiz befindet sich ganz in der Nähe, in Wettingen: das heutige Restaurant Sternen auf der Klosterhalbinsel, das 1227 erstmals in Schriften erwähnt wurde.

Stoessel führt aus, dass Gasthäuser schon immer Orte des Schutzes und des Friedens waren und es Gesetze gab, welche die Pflichten beider Parteien regelten. So haftete im Mittelalter der Wirt für das Eigentum und das Leben des Gastes. Der Gast wiederum musste seine Waffen abgeben und die Dienstleistung bezahlen. Unabhängig von der Grösse des Gasthauses gab es in den Zimmern Doppelbetten, die von zwei Gästen geteilt werden mussten, selbst wenn diese einander fremd waren. Erasmus von Rotterdam schrieb 1530 in einem Traktat darüber, wie man sich in einer solchen Situation korrekt zu verhalten habe:

«Man sollte nicht zu viel schwatzen, sich nicht entblössen und dem Bettpartner nicht die Decke wegziehen.»

Als Randbemerkung: Es galt damals als Ehre und Privileg, als Gast das Bett mit dem Gastgeber zu teilen, um Freundschaften zu festigen. Es war sogar üblich, Verträge im Bett abzuschliessen.

Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, griff 1795 den Begriff «Hospitalität» (Gastlichkeit) auf. Er beschreibt das Recht des Fremdlings, bei seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden, solange er sich friedlich verhielt. Hospitalität verstand er als ein Recht auf Besuch, unabhängig von Ansehen, Hautfarbe, Religion und Rang, da sich alle Menschen schliesslich nebeneinander dulden sollten und niemand mehr Recht habe, an einem bestimmten Ort der Erde zu sein, als der andere. «Hospitality» entwickelte sich später zu einem wirtschaftlichen Bereich (z.B. Hotels, Restaurants, Freizeitparks) und einem gemeinnützigen Bereich, der «Social Hospitality» umfasst (z.B. Krankenhäuser, soziale Einrichtungen), in dem auch unsere Arbeit eingebettet ist.

Bei uns im HOPE ist Gastfreundschaft die Seele unseres Betriebs. Sie ist tief in unserem christlichen Menschenbild sowie in unserer Vision und Aufgabe verankert, Menschen in Not rasch und unbürokratisch zu helfen und aufzunehmen, unabhängig von Status, Ethnie, Glaubensrichtung oder Geschlecht. Die Gründer von HOPE nahmen früher obdachlose Personen bei sich zu Hause auf. Inzwischen haben wir einen Professionalisierungsprozess durchlaufen und halten uns an bestimmte Standards. Wir sind vom Kanton zertifiziert und richten unseren Gastronomiebetrieb nach den Vorschriften des Lebensmittelgesetzes aus. Wir haben eine Wirtebewilligung für das Führen eines öffentlichen Restaurants und erhalten regelmässig Besuch vom Lebensmittelinspektor. Aus diesem Grund war es auch notwendig, die Gassenküche zu sanieren.

Doch der ursprüngliche Funke und die vorgelebte Gastfreundschaft unserer Gründer sollen nie erlöschen und von jedem Mitarbeitenden vorgelebt werden. Alle Investitionen und Veränderungen sollen dem Zweck dienen, dass sich unsere Gäste wohl, wertvoll und daheim fühlen. Daher war es uns auch besonders wichtig, die Toiletten heimelig zu gestalten. Denn oft ist dies der einzige Raum für Menschen ohne Obdach, um sich für einen Moment zurückzuziehen und für sich zu sein.

Unsere Menüs sind abwechslungsreich, nahrhaft und mit Liebe zubereitet.

Wir binden die Gäste im Rahmen der Beschäftigung in die Rolle des Gastgebers ein und ermöglichen es jedem Menschen, seine Würde als Gast zu wahren und seine Fähigkeiten einzusetzen. Ob im Service, bei der Zubereitung der Speisen oder in der Abwaschküche – unsere Gäste können sich ein Vier-Gang-Menü selbst verdienen. Ein Gast meinte:

«Gemeinsames Kochen erfüllt mich. Für andere mit Liebe ein Menü zuzubereiten, das allen schmeckt, und ihnen beim Essen zuzuschauen, ist ein riesiger Unterschied im Vergleich zum Alleinsein beim Essen.»

Trotz der neuen Küche bleibt der zur Verfügung stehende Raum im HOPE eng. Wir müssen auch in unseren betreuten Wohnplätzen nach wie vor Doppelzimmer anbieten. Zum Wahren der Privatsphäre stehen Trennwände zur Verfügung. Das Teilen eines Zimmers wird jedoch nicht nur negativ bewertet. Ein ehemaliger Bewohner erlebte die Zimmergemeinschaft in seiner Situation als bereichernd:

«Gute Gespräche und Probleme können miteinander besprochen werden. Gerade in einer Übergangszeit, wenn es einem nicht gut geht, ist man froh, einen passenden Zimmernachbarn zu haben, der einem zuhört.»

Laut Wikipedia waren bis ins Hochmittelalter die meisten Häuser überwiegend klein und boten höchstens 18 Betten – genau wie im HOPE und in der Notschlafstelle. In unseren engen Räumlichkeiten können wir uns nicht aus dem Weg gehen, und genau das schätzen die meisten. Denn gerade die Auseinandersetzung mit dem Fremden eröffnet neue Welten und Horizonte. So wird der Bediente zum Schenkenden und erfährt ein volles Bouquet an Gastfreundschaft, das sich in allem Wandel nicht verändert. Und nach der ersten gemeinsamen Suppe sind alle Barrieren abgebaut.

Herzliche Grüsse
Deborah Schenker, Geschäftsleiterin

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